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2003 Sechzig Jahre nach dem Tod seines Bruders arbeitet Uwe Timm seine Familiengeschichte auf: höchst eindrucksvoll und aussagekräftig, schreibt Jochen Hörisch. Ausgangspunkt dieser ganz privaten und doch hochpolitischen Geschichte sind einige Sätze aus dem Front-Tagebuch seines 1943 in Russland gefallenen Bruders, der einer Einheit der Waffen-SS angehörte. Jahre-, nein jahrzehntelang wurde in der Familie der Tod des Bruders betrauert und seine nationalsozialistische Orientierung kollektiv beschwiegen. Am Beispiel meines Bruders - Uwe Timm - Google Books. Hörisch meint, es sei dem Autor immer noch anzumerken, wie schwer es ihm falle, gegen dieses Schweigen anzuschreiben. Den Rezensenten nimmt für dieses Erinnerungsbuch vor allem ein, dass der Autor einerseits sehr liebevoll mit seinen "Familienbanden" umgeht und zugleich eine Illusionslosigkeit walten lässt, die sich von der Erinnerung, von auftauchenden Emotionen nicht einlullen lässt. Timms besondere analytische Kraft besteht darin, schreibt Hörisch, nach dem vermeintlich Unwichtigen zu fragen und damit Selbstverständlichkeiten zu sezieren, eine - im übrigen völlig normale - Lebensform einzukreisen, die auf dem "Nicht-darüber-Sprechen" beruht.
75 m[eter] raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG. Warum er zur SS ging, bleibt letztlich unerklärlich. Uwe Timm weiß nur, dass seine Mutter später sagte, sie sei dagegen gewesen. Wobei die Mutter dem Vater nie einen Vorwurf machte. Es hieß,... der Vater hätte nicht zugeredet. Aber dessen bedurfte es auch nicht. Es war nur die wortlose Ausführung von dem, was der Vater im Einklang mit der Gesellschaft wünschte. Eine deutsche Familie im Einklang mit der deutschen Gesellschaft. Man könnte Timms Buch einen "Familienroman" nennen, nicht als literarisches Etikett, sondern im psychologischen und soziologischen Sinn. Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm portofrei bei bücher.de bestellen. Timm skizziert in assoziativ gefugten Bruchstücken die soziale und mentale Entwicklung einer vom Vater bestimmten deutschen Familie. Der Vater, 1899 geboren, schaffte es dank seinem Auftreten und dank seiner Intelligenz, mehr zu scheinen als er tatsächlich war. Ohne Berufsausbildung gelang es dem Weltkriegsteilnehmer schließlich, fürsorglich unterstützt von seiner Frau, die aus besseren Verhältnissen stammte, sich als Tierpräparator und nach dem zweiten Krieg als Inhaber einer Kürschnerei durchzuschlagen.
Warum wurden diese Träume nach einem halben Jahrhundert immer drängender? Der Impuls, über den Bruder zu schreiben, sich ein Bild von ihm zu machen, von seiner Generation im Nazikrieg, erwächst bei Uwe Timm auch aus der Notwendigkeit, über die Voraussetzungen der eigenen Biographie Klarheit zu gewinnen. Es ist die Frage nach familiären Prägungen, nach Werten und Erziehungszielen, nach Liebe, Nähe und Respekt unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs. Warum hat sich der Bruder freiwillig zur SS gemeldet? Am Beispiel meines Bruders - Bücher, Biografien, Freizeit. Wie ging er mit der Verpflichtung zum Töten um? Welche Optionen hatte er, welche Möglichkeiten blieben ihm verschlossen? Wo ist der Ort der Schuld, wo der des Gewissens bei den Eltern, die ihn überlebt haben? Uwe Timms Buch ist ein bewegender und nachdenklicher Versuch über den Bruder, über Schuld und Erinnerung, es ist auch ein Porträt der eigenen Familie und eine Studie darüber, welche Haltungen den Nationalsozialismus und den Krieg möglich machten, was das mit uns zu tun hat und wie man darüber sprechen kann.