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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29. 05. 2013 Wer der Krähe folgt, ist halb schon verloren Abgründig, poetisch, zugespitzt: Mit den fünf Novellen seines neuen Bandes "Das Haus in der Dorotheenstraße" erweist sich Hartmut Lange als Meister dieses Genres. Zwei Standortwechsel markieren die literarische Entwicklung des Schriftstellers Hartmut Lange: der Wechsel des Dramatikers und Dramaturgen am Ost-Berliner Deutschen Theater nach West-Berlin im Jahre 1965 und der Übergang vom Drama zur Novelle, den Lange mit den fünf Texten vollzieht, die 1984 unter dem Titel "Die Waldsteinsonate" erscheinen. Theodor Storms Formel von der Novelle als der "Schwester des Dramas" wird hier plausibel, denn die Werkstatt des Dramatikers Lange war die beste Schule für die Technik des novellistischen Spannungsaufbaus. Zugleich nimmt kein Autor der Gegenwart Goethes Formel von der Novelle als einer "sich ereigneten unerhörten Begebenheit" so sehr beim Wort wie Lange, schon in der Sammlung "Die Waldsteinsonate".
Unkenntnis und Spekulation Am Schluss der Novelle Das Haus in der Dorotheenstraße weist der Erzähler ausdrücklich darauf hin, dass er nicht weiß, wie die Geschichte weitergeht, nachdem Gottfried London aufgrund der ungeklärten Vorfälle mit Xenia verlassen hat: "Was letztendlich geschah, wir wissen es nicht" (S. 92). Gottfried plant seinen eigenen Aussagen zufolge, "erst einmal nach Island zu fahren, um den Grimsvötn, der Heathrow lahmgelegt hatte, in Augenschein zu nehmen" (S. Ob dies wirklich passiert, bleibt daher offen. Der Schriftsteller überlässt es seinen Lesern, sich den Spekulationen des Erzählers anzuschließen oder sich einen eigenen Schluss der Novelle auszumalen. Daher formuliert der Autor die Ideen des Berichterstatters als offene Fragen: "Und das Haus in der Dorotheenstraße? War dies nicht der Ort, dem sich Klausen über Jahre hinweg und mit wachsender Zuneigung verbunden fühlte? Und hätte er nicht allen Grund gehabt, statt nach Island mit dem nächstbesten Flugzeug nach Berlin zu fliegen, genauer, nach Kohlhasenbrück...
In der Tat unerhört sind die Situationen Nietzsches vor dem Ausbruch des Wahnsinns, Kleists und Henriette Vogels vor dem Selbstmord am Wannsee und - surrealistisch zugespitzt - der Besuch des toten Franz List bei Goebbels im Führerbunker vor der Selbstauslöschung der Familie. In den mehr als zehn weiteren Bänden, bis zu den Novellen "Der Abgrund des Endlichen", verstärkt sich eine Tendenz zum Mysteriösen. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht die Verfremdung einer scheinbar augenfälligen Erfahrungswelt und einer scheinbar verbürgten historischen Vergangenheit in den "unheimlichen Begebenheiten" des Bandes "Im Museum" (2011). Untergraben wird hier aller Optimismus mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens, die heutige und die geschichtliche Welt vermessen zu können. Das "Deutsche Historische Museum" wird zum schaurigen Labyrinth, aus dem Menschen verschwinden, ohne je den Ausgang erreicht zu haben, zu einem diffusen Albtraum, zur Diskussionsbühne für eine unbeirrbare Skepsis: Menschlicher Erfindergeist ist kriegerisch, und kriegerisches Töten wird sich "durch die Perversion des Denkens bis in alle Ewigkeit" fortsetzen.
Direkt nach dem Aufwachen denkt er: "Warum ruft Xenia nicht an" (S. 79). Gottfried glaubt, dass Xenias Abwesenheit lediglich eine harmlose Ursache hat. Er ignoriert die Tatsache, dass Xenia keinen Grund für ihr Verhalten nennt: "Sie bedauerte, dass sie gestern nicht miteinander hatten sprechen können, nannte aber keine Gründe, (…)" (S. 80). Während Xenias Handeln schon vermuten lässt, dass sie etwas vor Gottfried verbirgt, schöpft ihr treuer Mann keinen Verdacht. Gottfried glaubt weiterhin, dass alles in Ordnung ist, denn er sucht nach einer größeren Wohnung, damit Xenia zu ihm ziehen kann (S. Xenia taucht in Flughafen nicht auf Als Gottfried seiner Frau dann ein konkretes Wohnungsangebot unterbreitet, verhält sie sich "zögerlich" (S. Gottfried fragt auch hier nicht nach dem Grund ihrer Zurückhaltung und ignoriert ihre Zweifel bzw. nimmt sie gar nicht wahr. Der Journalist überredet seine Frau, zu ihm nach London zu fliegen, um die Wohnung zu besichtigen: " (…) und als er ihr klarzumachen versuchte, wie schwierig es für ihn sei, in einer fremden Umgebung, in einer Stadt, an die er sich erst gewöhnen müsse, immer allein zu sein, stimmte sie zu.