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Nach dem einen oder anderen Hänger in der Karriere ist das ein sehr geglücktes Comeback, das Fans mehr als zufriedenstellen dürfte. Jonas ist ähnlich überzeugt: Das achte Placebo-Album kommt einem Entdeckungsprozess gleich. Einem Wiederfinden alter Kreativität und Freude am Schaffen. Das ist hörbar. Die zum Duo geschrumpfte Band bestätigt diesen Eindruck. Die ausführliche Pressebeilage zum Album berichtet detailliert davon wie ausgelaugt und lustlos sich Molko und Olsdal nach den letzten Touren fühlten. Wie sie die Lust an kreativen Prozessen dadurch wiedererlangten, dass sie die für eine Albumentstehung gewöhnlichen Schritte umkehrten, mit dem Artwork und den Liedtiteln begannen. Die Songs, die im Anschluss entstanden, werden dieser kreativen Neufindung gerecht. Ursprünglich sollten die bereits im Sommer 2020 erscheinen – auch das legt die Bio nahe. "Never Let Me Go" also ist eines dieser Alben, die dank der Pandemie noch ruhen und reifen mussten. Oder eben durften – alles eine Frage der Perspektive.
Wie viel gute Musik uns verwehrt und wie viel schlechte uns dadurch erspart wurde, bleibt wohl eine der vielen offenen Fragen dieser Zeit, die niemals abschließend beantwortet werden können. "Never Let Me Go" aber erscheint. Wenn auch nahezu zwei Jahre später als ursprünglich anvisiert. Die Band nutzte die Zeit, um nachzujustieren. Nach dem faden "Loud Like Love" war das wohl nötig. "Never Let Me Go" nämlich ist nicht so verkrampft und deshalb um ein vielfaches besser. Auf bewährte Pop-Muster setzt die Band wenig. Das teilt es sich mit den ganz alten Placebo-Alben aus den 1990ern. Viele der Songs überschreiten daher eine Länge von fünf Minuten. Auch auf Radio-taugliches Material verzichtet die Band, dem Zeitgeist biedert sie sich an keiner Stelle an. Es gibt demnach keine Trap-808s und auch kein Autotune. Dafür dichte Gitarrenwände, weiträumige Synthesizer-Läufe, ekstatische Ausbrüche, herausragende Momente. "Surrounded By Spies" beispielsweise ist einer dieser besonderen Songs, er wurde im Vorfeld auch bereits ausgekoppelt.
Never Let Me Go ist ein Film des britischen Autors Kazuo Ishiguro, welcher aus dem Jahre 2005 stammt. Hierbei handelt sich um eine Erzählung einer noch jüngeren Frau (adsbygoogle = bygoogle || [])({});. Diese berichtet über ihr Leben, das sie an einer Schule verbringt, die als Organreservoir dient. Die Schüler hier sind alles Klone, welche in jene Welt gesetzt wurden, um zu einem späteren Zeitpunkt wichtige Organe zu spenden. Die Schüler werden nach und nach mit furchtbaren Wahrheiten, die das Leben bestimmen, konfrontiert, in welchem sie nicht begreifen können, was dies bedeutet. Das Buch zum Film wurde bereits 2005 für den bedeutendsten britischen Buchpreis (Booker Prize), nominiert. Außerdem erhielt das Buch Nominierungen für den C. Clarke Award sowie den National Book Critics Circle Award. So wurde das Buch zum segensreichsten Roman des Jahres 2005 und nahm dies in Liste der hundert dienlichsten und englischsprachigen Romanen von bis 2005 auf. Im Jahr 2015 wählten hier 82 internationale Literaturkritiker diesen Roman zu einem der erfolgreichsten britischen Romane.
So etwas können sich eben nur Bands erlauben, die schon so lang am Start sind, dass Fans auch bis zum Sankt-Nimmerleinstag warten werden. Wie war das nochmal mit ABBA? Im Vergleich dazu sind die paar Jährchen bei Placebo natürlich viel eher eine kreative Verschnaufpause. Auffällig ist es aber allemal – zuvor gab es maximal vier Jahre Wartezeit, nun gleich mehr als das doppelte. Dabei lief es zuletzt mit "Loud Like Love" (2013) gewohnt gut, die Leadsingle "Too Many Friends" war sogar in Deutschland der erfolgreichste Track in den Charts, den Placebo jemals hier verbuchen konnten. Hatten die Beiden durch ihre persönliche Coronaerfahrung jetzt genug zu erzählen? Einfach den Drang, mit etwas rauszugehen? Eigentlich auch völlig egal, Fakt ist, sie sind da. Die Tour-Termine sind längst bekannt. Über 50 Gigs sind in Planung, davon auch eine gute Menge in Germany. Passt ganz hervorragend, denn neben den Evergreens wäre eine Ladung neuer Songs bei dem doch recht gelungenen Output ziemlich angebracht, der nun in Form von "Never Let Me Go" vorliegt.
"Forever Chemicals" geht trotzdem mit einem elektronisch-klirrenden, leicht ohrenbetäubenden Intro los, bis es dann nach wenigen Sekunden in wunderbar treibenden Alternative-Rock übergeht. Ab dem Moment an folgen 13 Tracks, bei denen keins unter das Siegel "voll ok" absackt, dafür aber manche sich mit einem "Jo, so muss das" schmücken dürfen. Haben also die klirrenden Synthesizer für den ersten Klangteppich gesorgt, geht es mit "Beautiful James" direkt Richtung berührenden Refrain mit wunderbaren Vocals, die alles liefern, was man als Placebo-Liebhaber*in benötigt. "Hugz" ist eher rotzig, krawallig und konfrontativ in den Lyrics, "Twin Demons" schnell und stampfend, "Surrounded by Spies" mystisch, atmosphärisch und mit unangepasstem Klanggewitter versehen, das in ein Pianooutro mündet. Dem hingegen punktet "The Prodigal" durch eine sensationelle, uplifting Streicher-Hook, die zeigt, dass auch kleine Überraschungen ganz, ganz viel bewirken. Großartig. "Try Better Next Time" ist durch seine Ohrwurmlines noch am ehesten der Radiohit, der funktionieren könnte, weil er auch Gelegenheitshörer*innen überzeugen sollte.
Mit einem kaum mitreißenden "Sad White Reggae" oder auch dem etwas zu eintönig geratenem "Happy Birthday In The Sky" gibt es aber auch zweimal, dafür jedoch immer noch okayes Mittelfeld-Füllmaterial. Auch das braucht man nicht skippen. Hauptsache, man hält schön bis zum Ende durch, um das deepe und emotionale "This Is What You Wanted" noch mitzuerleben, was so stark mit Klavier, Gitarren und Synthies aufbaut, dass der sehr späte Drop wie eine Erlösung wirkt. Tolle Produktion. "Went Missing" gleicht einem Mantra, erinnert an "Twenty Years", das auf "Sleeping With Ghosts" trifft und traut sich fast zwei Minuten lang sein Ende zu zelebrieren. Den Abschluss bildet ein Bossa-Beat mit bläserartigem Riff ("Fix Yourself") – ok, why not? Überraschungen eben. Besser hier und da, als gar keine oder entschieden zu viele. Eigentlich gibt es da wenig zu beanstanden. Placebo sind auch nach einem Vierteljahrhundert Bandgeschichte immer noch das, was sie eh und je waren. Eigenwillig, einzigartig, unverkennbar, ziemlich gut.