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Hans Michael Heinig/Frank Schorkopf (Hg. ): "70 Jahre Grundgesetz. In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik? ", Vandenhoeck & Ruprecht, 19, 90 Euro.
Alles super also, aber auch noch nicht alles, denn was unsere Generation noch so auf die Beine stellen sollte, steht nicht im Grundgesetz.
Grundgesetz auf Schülertisch Foto: Monika Skolimowska/ DPA 70 Jahre nach seiner Verabschiedung wirkt das Grundgesetz wie eine Utopie. Wer es liest, möchte nicht nur in dem darin entworfenen Staat leben. Man möchte sich vielmehr in derselben hoffnungsfrohen und anmutigen Gemütsverfassung befinden, die wir heute aus den Artikeln 1 bis 146 lesen können. Es ist nicht der Zauber des Anfangs, dazu wissen wir zu viel über die Not und berechtigte Furcht der späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahre, in denen schwer traumatisierte Menschen in Sorge vor einem neuen Krieg lebten. Ihre Gegenwart war geprägt von der Abwesenheit der Millionen Kriegstoten, der Opfer der Shoah, der Teilung des Landes und einer Armut, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Grundgesetz 70 jahre buch germany. Wie überhaupt noch die krassesten Darstellungen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah Verniedlichungen sind, ein "Conni im Krieg" -Kinderbuch verglichen mit den reellen Erfahrungen und Traumata. Und in dieser Situation wird solch ein Text geschrieben und verabschiedet - voller Zumutungen, Vertrauen und radikaler Menschlichkeit, ohne Drohungen, Kontrollen und Strafen.
Die Verfassung ist bei den Deutschen beliebt. Trotzdem ist sie gefährdet - durch Rechtspopulisten, aber auch durch einen übereifrigen Sicherheitsstaat. Daher braucht das Grundgesetz den Schutz durch die Bürger. Wie sehr man sich auch müht, die beiden Bilder zusammenzubekommen: Es will nicht recht gelingen. Da sind auf dem einen Bild die Feiern zum 70. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Die Gastgeber huldigen dem Jubilar, und ungezählte Gäste machen begeistert mit. Der Bundestag, das Bundesverfassungsgericht, der Bundespräsident lassen die Verfassung hochleben. Grundgesetz 70 jahre buch 7. Viele Bürger schauen und hören zu, melden sich zu Wort, fast durchgehend angetan bis begeistert von dem Regelwerk. Die Resonanz ist freilich nicht nur dem Datum geschuldet, nicht nur der in diesen Tagen zelebrierten Erinnerung daran, was am 23. Mai 1949 geschah. Seit Jahren schon zeigt sich in etlichen Umfragen, dass das Grundgesetz bei einem großen Teil der Bevölkerung genau die Wertschätzung genießt, die es verdient: als Gegenentwurf zu allem, wofür Nazi-Deutschland stand.
Bei all diesen Entwicklungen ist ein staatsrechtlicher Kompass notwendig, der verlässlich durch die komplexe Verfassungsordnung führt. In dieser "Lotsenrolle" liegt ein wichtiger Auftrag an die Staatsrechtslehre und die staatsrechtliche Literatur.
Die "Herrschaft des Unrechts", von der der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) mit Blick auf den Zuzug von Flüchtlingen gesprochen hatte, ist hierfür nur ein besonders schändliches Beispiel. Nein, die Feiern zu Ehren des Grundgesetzes sind kein leeres Ritual. Auch wenn ein Teil der Bevölkerung ablehnt, wofür die Verfassung steht - die meisten Menschen identifizieren sich mit deren Prinzipien. Das ist gut, aber nicht ausreichend. 70 Jahre Grundgesetz: Geschichte und Inhalt. Es schützt nicht vor der weiteren Erosion dessen, was das Grundgesetz, mehr noch, was dieses Land und unser Leben darin ausmacht. Die Verantwortung für diesen Schutz kann man nicht einfach bei der Politik, bei Sicherheitsbehörden oder Gerichten abladen. Dieser Schutz braucht auch Bürger, die sich für die Demokratie, den Rechtsstaat, das friedliche Miteinander engagieren; die den Hetzern und Hassrednern etwas entgegenhalten. Diese Bürger gibt es schon heute. Sie engagieren sich als Verteidiger der Bürgerrechte, Integrationslotsen, Klimaschützer, Friedensaktivisten, Streiter für die Gleichberechtigung von Frauen.
Dieser Glücksbegriff taucht wohlgemerkt nicht auf, wieder viel zu schwer. Stattdessen erfindet der Parlamentarische Rat den Begriff von der "freien Entfaltung der Persönlichkeit", eine Vorstellung, über die die deutschen Eliten früher nur gelacht hätten - nun ist so etwas grundgesetzlich geschützt. Und es hat geklappt. Wenn man sich in diesen Tagen über Politik und den Lauf der Welt unterhält, sei es mit Profipolitikern oder den Leuten in der Supermarktschlange, fällt oft so ein kleiner Satz: "Privat geht's mir super, aber... " Das ist so der Zeitgeist. Reisen, Gesundheit, Vermögen und Bildung - in nahezu allen Punkten geht es den Deutschen heute unendlich viel besser als denen von 1949. Grundgesetz 70 jahre buch euro. Aber etwas fehlt doch auch, vielleicht die öffentliche Aufgabe, die uns Bürgerinnen und Bürgern zugemutet werden kann. Der Moment, wo wir gestalten, weil nichts von allein kommt, und dazu auch aufgerufen werden, zu helfen in Fragen des Klimaschutzes, der Gemeinschaftspflege und der Innovationen. Das Grundgesetz, dieses magische Buch, das so viel deutsche Dämonen erledigen konnte, hat uns verwöhnt.